In einem seit langem erwarteten positiven Schritt hat der High Court des Vereinigten Königreichs am 20. Mai Julian Assange das Recht eingeräumt, gegen seine Auslieferung an die Vereinigten Staaten Berufung einzulegen, wo er wegen der Veröffentlichung geheimer Informationen vor Gericht gestellt und möglicherweise lebenslang inhaftiert wird. Reporter ohne Grenzen (RSF) begrüßt diese Entscheidung, die dem WikiLeaks-Herausgeber eine letzte Chance gibt, vor den britischen Gerichten seine Auslieferung zu stoppen und die Zusicherungen der USA anzufechten, dass ihm ein fairer Prozess gemacht würde.
Assange wird erlaubt, in zwei von neun Punkten, die sein Anwaltsteam bei der Anhörung im Februar vorgebracht hat, Berufung einzulegen. Beide Punkte betreffen die Möglichkeit, dass ihm als australischem Staatsbürger der Schutz der Meinungsfreiheit, der durch den Ersten Verfassungszusatz gewährleistet wird, verweigert werden könnte. Das Gericht lehnte die Berufung auf der Grundlage ab, dass er die Todesstrafe erhalten könnte, nachdem es von der US-Regierung die Zusicherung erhalten hatte, dass dies nicht der Fall sein würde. Die sechs anderen Berufungsgründe wurden bereits im März abgewiesen.
Diese Entscheidung ist ein wichtiger Meilenstein im Rechtsfall von Julian Assange und eröffnet einen bedeutenden neuen Weg, um die Auslieferung zu verhindern. Die beiden Berufungsgründe, denen stattgegeben wurde, bedeuten, dass sich die britischen Gerichte zum ersten Mal seit drei Jahren mit den Kernfragen dieses Falles befassen werden, die mit der Meinungsfreiheit und dem ersten Verfassungszusatz zusammenhängen. Wir fordern das Vereinigte Königreich dringend auf, im Interesse des Journalismus und der Pressefreiheit zu handeln und diese gefährliche Strafverfolgung nicht weiter zu ermöglichen. Rebecca Vincent, RSF-Direktorin für Kampagnen
Im April gab die US-Regierung schriftliche Zusicherungen, dass Assange erlaubt werde, die Rechte und Schutzmaßnahmen gemäß dem Ersten Verfassungszusatz „anzusprechen und sich darauf zu berufen“. Allerdings wurde betont, dass letztlich ein US-Gericht darüber entscheiden würde. Assanges Anwaltsteam bezeichnete diese Zusicherungen als „völlig unzureichend“, da eine explizite Zusicherung des US-Staatsanwalts fehlte, dass ihm dieser Schutz gewährt würde.
Bei der Bekanntgabe ihrer Entscheidung gaben die Richterin Dame Victoria Sharp und Richter Mr Justice Johnson – die zuvor erklärt hatten, Assange habe „reale Erfolgsaussichten“ bei der Berufung in den beiden zugelassenen Punkten – den Parteien eine Frist bis zum 24. Mai, 14 Uhr zur Einreichung eines Beschlussentwurfs gegeben.
Assanges Gesundheitszustand gibt Anlass zur Sorge
Assange war nicht vor Gericht anwesend, da er Berichten zufolge nicht gesund genug war, um teilzunehmen, obwohl ihm die Erlaubnis dazu erteilt worden war. Er hat die letzten fünf Jahre in Untersuchungshaft im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh verbracht, während das Auslieferungsverfahren weiterlief. RSF-VertreterInnen konnten ihn seit August 2023 fünfmal im Gefängnis besuchen und haben Bedenken über seinen psychischen und physischen Gesundheitszustand in der Haft geäußert.
Das Interesse an dem Fall ist nach wie vor groß. Journalist*innen und andere Beobachter*innen füllten zwei überfüllte Gerichtssäle, und außerhalb des Gebäudes jubelten zahlreiche Unterstützer, als die Nachricht vom Urteilsspruch sie erreichte. Für Assanges Unterstützer war es die erste gute Nachricht in dem Fall seit Januar 2021, als die Bezirksrichterin Vanessa Baraitser die Auslieferung aus Gründen der psychischen Gesundheit ablehnte. Ihre Entscheidung wurde jedoch im Dezember 2021 aufgehoben, nachdem die US-Diplomaten zugesichert hatten, dass Assange im Falle einer Auslieferung behandelt werden würde. Der Oberste Gerichtshof verweigerte im März 2022 die Zulassung der Berufung, und im Juni desselben Jahres unterzeichnete die damalige britische Innenministerin Priti Patel den Auslieferungsbeschluss. Assanges erster Einspruch gegen die Anordnung wurde in einer kurzen schriftlichen Entscheidung im Juni 2023 abgelehnt, was zu diesem letzten Antrag auf Berufung führte.
Im Falle einer Auslieferung an die USA drohen Assange bis zu 175 Jahre Haft aufgrund von 18 Anklagepunkten, die sich auf die Veröffentlichung von mehr als 250.000 geheimen militärischen und diplomatischen Dokumenten durch WikiLeaks im Jahr 2010 beziehen. Assange wäre der erste Verleger, der auf der Grundlage des Spionagegesetzes (Espionage Act) ausgeliefert wird, einem Gesetz, das keine Verteidigung im öffentlichen Interesse zulässt. Damit wird ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, der auf jeden Journalisten oder jede Medienorganisation überall auf der Welt angewendet werden könnte. Die Informantin dieses Materials, die ehemalige Geheimdienstanalystin Chelsea Manning, verbüßte fast sieben Jahre Haft, bevor Präsident Obama ihre Strafe umwandelte und sie als unverhältnismäßig bezeichnete.
Reporter ohne Grenzen (RSF) war die einzige NGO, die alle vier Jahre des Auslieferungsverfahrens gegen Assange verfolgt hat. RSF-VertreterInnen haben auch seltenen Zugang erhalten, um Assange im Belmarsh-Gefängnis zu besuchen, nachdem ihnen dies zunächst verwehrt worden war. Parallel zum Auslieferungsverfahren im Vereinigten Königreich hat sich RSF auch direkt an die US-Regierung gewandt und drängt die Regierung Biden weiterhin, eine politische Lösung für den Fall zu finden, um die Auslieferung von Assange zu verhindern und seine Freilassung aus dem Gefängnis ohne weitere Verzögerung zu ermöglichen.
Das Vereinigte Königreich und die USA belegen im RSF-Weltindex für Pressefreiheit 2024 die Plätze 23 bzw. 55 von 180 Ländern.