Verzicht auf Wahrheitsfindung in der Politik: Kein Licht am Ende des Tunnels

Verzicht auf Wahrheitsfindung in der Politik: Kein Licht am Ende des Tunnels

Verzicht auf Wahrheitsfindung in der Politik: Kein Licht am Ende des Tunnels

Der aktuelle Blog von “Reporter ohne Grenzen (RSF) Österreich”-Präsidentin Rubina Möhring im “Standard”.

“Wahrheitsfindung ist entbehrlich – also sprach Wolfgang Sobotka, österreichischer Parlamentspräsident, jüngst in einem TV-Interview im Zusammenhang mit parlamentarischen Untersuchungsausschüssen.
War das nun eine gezielte Brüskierung und Nihilisierung demokratiepolitischer Werte oder nur ein unbewusstes “Hoppala” – was immer ein solches im politischen Diskurs bedeutet. Wolfgang Sobotka ist immerhin nach dem Bundespräsidenten der zweitmächtigste Mann im Staat. Sein Sprecher ruderte für seinen Chef zurück.

“Wahrheitsfindung ist in jeder Hinsicht unentbehrlich” – so lautet ein Grundsatz der internationalen Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen. Wahrheitsfindung darf nie zu einem Pingpongball von Parteien bzw. politischen und/oder wirtschaftlichen Interessengruppen degenerieren. Dies gilt auch in Sachen politischer Bildung und Ethik an allen österreichischen Schulen. Kleiner Sidestep in Sachen ÖVP-Nachwuchsförderung: Wolfgang Sobotka ist Vorstandsmitglied der politischen ÖVP-Akademie. Diese sieht ihren gesetzlichen Auftrag und ihr Selbstverständnis in staatsbürgerlicher politischer Bildung. “Als Raum (…) für die Entwicklung von Demokratie und Politik in Österreich”. Ministerin Elisabeth Köstinger ist als Vizepräsidentin mit von der Partie. Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer als Vorstandsmitglied ebenfalls.

Vor nun immerhin 76 Jahren wurde 1945 nach dem Ende des zweiten Weltkriegs des 20. Jahrhunderts, zugleich nach dem Ende des brutalen, menschenverachtenden Hitlerregimes auch in Österreich begonnen, ein liberales, demokratisches Staatssystem zu etablieren und als solches zu stabilisieren. Kein einfacher Prozess nach den langen Jahren der Diktatur. Auch der Mut zu freiem Denken und Handeln will erst wieder gelernt sein.

Hilfreich war und ist hierbei die UN-Deklaration der Menschenrechte. Präsentiert und in Kraft gesetzt am 10. Dezember 1948, initiiert von Eleanor Roosevelt, der Ehefrau des 1945 kurz vor Kriegsende verstorbenen US-Präsidenten Franklin Roosevelt. “Nie wieder” ist nach wie vor das Leitmotiv dieser UN-Menschenrechts-Konvention. Nie wieder Massenmord, nie wieder Menschenverachtung, nie wieder unfreie Medien und medial vermittelte Gehirnwäsche, nie wieder politische Lügen, die in der Öffentlichkeit nicht hinterfragt, nicht als solche erkannt und dargestellt werden. Nie wieder Medien, die sich Regierenden beugen.

Wahrheitsfindung ist unentbehrlich in jedem zeitgemäß liberalen, demokratiepolitisch orientierten Gesellschaftssystem. Nicht nur dies, Wahrheitsfindung ist eine entscheidende Basis auch für ein lebendiges Rechtssystem und Rechtsverständnis. Dies gilt auch für das Vertrauen der Gesellschaft in politische Parteien und zumal in gewählte Regierungen und deren Repräsentanten. Wenn selbst diese es mit der Wahrheit nicht genau nehmen, wem soll man dann im Staat noch trauen können?

Wohl per Zufall stellte der österreichische Parlamentspräsident die Notwendigkeit der Wahrheitsfindung just eine Woche vor dem internationalen Tag der Pressefreiheit infrage. Dieser 3. Mai ist der von der Unesco deklarierte Tag der Pressefreiheit. Pressefreiheit bedeutet bekanntlich zugleich Informationsfreiheit. Diese Informationsfreiheit wiederum dient als definiertes Menschenrecht jeder und jedem von uns. Politikerlügen sollten in diesem demokratiepolitischen Spektrum nichts zu suchen haben. Wahrheitsfindung ist in jeder Hinsicht ein wichtiges demokratiepolitisches Gut.

Umso besorgniserregender ist das diesjährige Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen ausgefallen. International ist eine zunehmende Tendenz zu Gewalt gegenüber Journalistinnen und Reportern wahrnehmbar. Allgemein hat das Informations- bzw. Desinformationssystem des nunmehr abgewählten US-Präsidenten Donald Trump Schule gemacht. Auch in Österreich. “Message-Control” und “Alternative News” heißen die Trump‘schen Allheilmittel, um Medien in ihrer Berichterstattung wirkungsvoll zu beeinflussen und zu lenken. Im Fall des österreichischen Nationalratspräsidenten ging ein solcher Versuch ziemlich daneben. Er erklärte, der Verzicht auf Wahrheitsfindung in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen werde in Deutschland längst praktiziert. Deutsche Experten belehrten ihn eines Besseren. Ruck, zuck korrigierten sie postwendend diese politische Fehlinterpretation.

“Die Wahrheit aller Länder ist nur in Dachkammern vorhanden”, schrieb einst der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr. Bahr hatte noch das Scheitern der ersten Demokratie-Gehversuche in Österreich sowie die Etablierung der Dollfuß-Diktatur erleben müssen. In Bahrs Todesjahr herrschte in Deutschland bereits seit einem Jahr der Österreicher Adolf Hitler. Die Gleichschaltung der Medien war da bereits weitgehend vollzogen. Hermann Bahr starb am 15. Jänner 1934. Knapp einen Monat später brach in Österreich der legendäre mehrtägige Bürgerkrieg aus. Nach dessen Niederschlagung wurden Demokratie, Informationsfreiheit, Wahrheitsfindung und Ähnliches bis 1945 schubladisiert. Zu perfekt war die damalige Propagandamaschinerie geölt. Sämtliche Medien übernahmen weitgehend eins zu eins die Jubelmeldungen der damaligen Reichskanzlei.

Heute nährt in Österreich die derzeitige Regierung zukunftsfroh die Hoffnung auf ein Tunnellicht. Positive Ankündigungspolitik ist angesagt, in welchem Zusammenhang auch immer. Das Angebot ist bunt und vielfältig: Bewältigung der Corona-Krise, Bewältigung der Arbeitsmarktkrise, Bewältigung der Umweltkrise, Bewältigung der Tourismus-, der Seilbahn-, der Fitnesscenter-, der Gastronomiekrise, und dann schließlich natürlich auch der Krise der kulturellen Szene. Wie war das doch gleich noch einmal mit der Wahrheitsfindung und deren angeblicher Entbehrlichkeit? Klare Frage, klare Antwort: Wahrheitsfindung ist unentbehrlich.

Zumal im jetzigen 21. Jahrhundert sollten und wollten wir endlich aus allfälligen Fehlern vergangener demokratiefeindlicher Zeiten gelernt haben. Insofern macht auch im Parlament der Ton die Musik. Parlamentarische Wahrheitsfindung lässt sich inzwischen nicht mehr so individuell dirigieren wie vielleicht mancherlei Hinterlandorchester. Im 21. Jahrhundert ist im Sinne einer liberalen Demokratiepolitik Transparenz angesagt. Ein schöner Traum, mögen manche unken. Mit ein bisschen gutem Willen samt entsprechend stringentem Informationsgesetz wäre dies ein durchaus realistisches Licht am Ende des Infotunnel-Dschungels.