Türkei: Cumhuriyet-JournalistInnen drohen 43 Jahre Haft

Türkei: Cumhuriyet-JournalistInnen drohen 43 Jahre Haft

Aus einer gestern bekannt gewordenen Anklage geht hervor, dass 19 JournalistInnen und andere Angestellte der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet für angebliche Unterstützung von Terrororganisationen Gefängnisstrafen zwischen siebeneinhalb und 43 Jahren erwarten könnten. Rubina Möhring, Präsidentin von Reporter ohne Grenzen, beurteilt diese Anklage als eine absolute Schande für die türkischen Behörden.

Erst gestern erfuhren die 19 Angeklagten, welche Anklagen gegen sie erhoben werden, obwohl einige von ihnen schon die vergangenen fünf Monate gefangen gehalten werden. Sie werden der „Mitgliedschaft“ oder „Unterstützung“ der Gülen-Bewegung, dem auch der versuchte Staatsputsch im Juli zugeschrieben wird, der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und der linksextremen DHKP-C beschuldigt. Die Anklageschrift behauptet auch, dass „ein radikaler Wandel in der Redaktionslinie“ aufgetreten sei, seit Can Dündar im Februar 2015 die Chefredaktion der Cumhuriyet übernommen hat und dass die Cumhuriyet folglich die Ziele dieser illegalen Organisationen unterstützen würde.

Kriminalisierte Blattlinie
Zehn der Angeklagten, darunter der bekannte Kolumnist Kadri Gürsel, Chefredakteur Murat Sabuncu und Karikaturist Musa Kart sitzen bereits die letzten fünf Monate in Untersuchungshaft. Der Investigativjournalist Ahmet Şık sitzt seit Dezember ein. Unter den Angeklagten sind außerdem der vorübergehende leitende Redakteur Aydın Engin, Washington Post-Korrespondent İlhan Tanir und Dündar selbst, der zurzeit im selbstgewählten Exil in Deutschland lebt.

„Die Anklage ist eine klare Kriminalisierung einer Präsident Erdoğan gegenüber kritisch eingestellten Blattlinie. Sie wird einer Form von Terrorismus gleichgesetzt. Das Zurückziehen dieser Anklage und die Freilassung der inhaftierten JournalistInnen ist die einzig angemessene Option für das Justizsystem“, fordert Möhring.

In den vergangenen Jahren hatte Cumhuriyet eine Reihe von für die Behörden blamablen Geschichten aufgedeckt und wurde damit zur Speerspitze der unabhängigen Presse, heute mehr unter Druck denn je. Dündar und der Bürochef in Ankara, Erdem Gül, wurden bereits für ihre Enthüllung von türkischen Waffenlieferungen an islamistische Gruppen in Syrien verurteilt.

Strafe durch verlängerte Untersuchungshaft
Elf der 19 Angeklagten mussten für Monate im Gefängnis ausharren, um überhaupt zu erfahren, weswegen sie angeklagt werden. Nachdem die Anfechtung dieses Vorgehens am türkischen Verfassungsgerichtshof ohne Antwort blieb, leiteten sie ihren Fall im März dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter.

Dutzende von türkischen JournalistInnen sind wegen solcher schwebender Verfahren in den letzten Monaten in Untersuchungshaft. Am 31. März ordnete ein Istanbuler Gericht die Freilassung von 21 JournalistInnen an, die sieben oder acht Monate in Untersuchungshaft saßen, weil sie den „medialen Flügel“ von Gülens Bewegung formiert haben sollen. Die Entscheidung wurde nur wenige Stunden später widerrufen. Die Verwandten der JournalistInnen warteten bereits vor dem Gefängnis auf sie. Die drei Richter, die die Freilassung angeordnet hatten, wurden suspendiert.

„JournalistInnen monatelang ohne glaubwürdige Erklärung in Untersuchungshaft halten, hat nichts mit Recht zu tun – es ist eine Form der politischen Bestrafung“, meint Möhring. „Es ist höchste Zeit, dass die Türkei diese Praktiken aufgibt und zu Verfassungsprinzipien zurückkehrt, die die Meinungsfreiheit garantieren.“

Die bereits beunruhigende Mediensituation in der Türkei, die zurzeit Platz 151 von 180 Ländern im World Press Freedom Index von Reporter ohne Grenzen einnimmt, ist seit der Verkündung des Notstandes, der im Zuge des vereitelten Staatsstreiches im Juli 2016 erlassen wurde, mehr als bedenklich geworden.

Rund 170 Medienstellen wurden schon per Verordnung geschlossen und 150 JournalistInnen sind aktuell in Haft. Mindestens 775 Presseausweise und hunderte Reisepässe von JournalistInnen wurden ohne juristischen Prozess eingezogen. Die Zensur im Internet und sozialen Medien hat bisher beispielloses Ausmaß erreicht.

All diese Maßnahmen haben die demokratische Debatte im Vorfeld des in zwei Wochen stattfindenden Referendums erheblich eingeschränkt, das entscheidend für die Zukunft der Türkei sein wird.

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Deniz Yüczel appellierte, Solidarität mit den unter Druck stehenden unabhängigen Medien zu zeigen und die Tageszeitungen „Cumhuriyet“, „Birgün“ und „Evrensel“ zu abonnieren. 

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