Update zum unten stehenden Beitrag: Unser Türkei-Korrespondent, Erol Önderoglu, wurde am 30. Juni 2016 freigelassen. Auch die Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsstiftung, Sebnem Korur Fincanci, ist wieder auf freiem Fuß. Wir fordern die türkischen Behörden auf, sämtliche Anschuldigungen gegen die beiden Menschenrechtsverteidiger unverzüglich fallen zu lassen und den Journalisten Ahmet Nesin ebenfalls aus der Haft zu entlassen.
Journalisten wurden kriminalisiert, weil sie sich für die Wahrung von Menschenrechten einsetzen
Jetzt ist es so weit: Erol Önderoğlu, seit 20 Jahren Reporter-ohne-Grenzen-Korrespondent in der Türkei, ein guter, kollegialer Freund, wurde am Montag in Istanbul verhaftet. Was zu befürchten war, ist nun passiert. Erol arbeitet übrigens auch kontinuierlich für die OSZE-Medienbeauftragte. Am Montag wurde er im wahrsten Sinne des Wortes “eingelocht,” festgenommen und eingeliefert in ein türkisches Gefängnis.
Ein Gericht hatte entschieden, dass er im Sinne des Anti-Terror-Gesetzes Terrorpropaganda betrieben habe. Wie? Indem er eine prokurdische Zeitung unterstützte. Hierzulande würde man derzeit noch sagen, er hatte gemeinsam mit anderen Menschenrechtsverteidigern versucht, einer Minderheitenzeitung ohne jedwede Nähe zu Terror à la PKK beim Überleben zu helfen.
Nicht nur er wurde in einer speziellen Aktion inhaftiert, auch an die 30 andere Journalisten und Journalistinnen – und: die weltweit respektierte medizinische Folterexpertin und Universitätsprofessorin Şebnem Korur Fincancı, die wissenschaftliche Grande Dame der internationalen Forensik. Mit ihr und dem Schriftsteller Ahmet Nesin hatte Erol abwechselnd ehrenamtlich die redaktionelle Leitung der Minderheitenzeitung übernommen.
Traurig-böses Spiel
Es ist ein traurig-böses Spiel mit den Menschenrechten, das der türkische Präsident Erdoğan derzeit treibt.
Noch am Vorabend der Verhaftungen gab er den weltoffenen, souveränen Gastgeber für Transsexuelle. Als prominenten Gast hatte er den populären transsexuellen Star Bülent Ersoy zum Fastenbrechen in seine Istanbuler Residenz eingeladen. Die 64-Jährige war gebeten worden, am Tisch des Präsidenten Platz zu nehmen. Am Montag ließ Erdoğan die entsprechenden Fotos veröffentlichen.
Nur wenige Stunden vor diesem präsidentiellen “Social Event” hatten knapp 150 Menschen in Istanbul für die Rechte von Homosexuellen demonstriert. Mehrere hundert Polizisten lösten die Kundgebung in der Nähe des Taksim-Platzes mit Tränengas, Gummigeschoßen und brutalem Geprügel auf. Die Demonstranten – sie hatten eine Regenbogenfahne, das Symbol der Bewegung der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT), vor dem LGBT-Büro aufgehängt – flohen in das nahe Gassengewirr, zwei Demonstranten wurden festgenommen. Keine Frage, dass eine Gay-Pride-Parade wie in Wien in Istanbul nicht erlaubt worden war.
Bürger ohne Rechte
Es ist einfach widerlich, was derzeit in der Erdoğan-Türkei passiert. Am Montag wurden Journalisten und Intellektuelle per “grüner Minna” in türkische Gefängnisse verfrachtet, wurden dort abgeliefert wie “Stückware” namens Bürger ohne Rechte. Da sitzen sie nun wohlverwahrt in ihren Zellen. Den Himmel sehen sie nur noch durch Gitter. Sie wurden kriminalisiert, weil sie sich vehement für die Wahrung von Menschenrechten einsetzen und sich nicht einschüchtern ließen.
Vergiftetes Medienklima
Erol – zu deutsch übrigens Held – war vor zwei Jahren auch nach Wien gekommen, um bereits damals auf die demokratiefeindlichen Tendenzen in der Türkei aufmerksam zu machen. Schon Ende April 2014 sprach er von einem vergifteten Medienklima in der Türkei und dass bereits mehr als 100 Journalisten ihren Job wegen kritischer Berichte über die Regierung verloren hätten. Viele hatten dann Strafanzeigen erhalten – nun ist Erol Önderoğlu selbst an der Reihe.
“Ermittlungen, Festnahmen, Prozesse, alles geschieht auf Druck der Regierung”, kritisierte Erol Önderoğlu kürzlich in Istanbul in einem Fernsehinterview. Und weiter: “Diese Prozesse, die ja eigentlich Erdoğan selbst führt, zeigen sehr deutlich, dass die Verfassung in der Türkei eigentlich schon außer Kraft gesetzt ist.” So jedenfalls zitierte ihn die “Wiener Zeitung”. Interviews wie diese dürften den Präsidenten mehr gestört haben als die kleine Überlebenshilfe, die Erol für eine kurdische Zeitung leistete.
Herr Erdoğan ist nun Europas Verhandlungspartner in Sachen Flüchtlingsversorgung. Die Berührungsängste gegenüber Flüchtlingen sind innerhalb der EU offenbar unüberwindbar, die gegenüber Erdoğan nicht. Kluger Humanismus steht längst nicht mehr an erster Stelle. In Wien tanzt übrigens ebenfalls seit Montag ein hochkarätiger und entsprechend teurer EU-Kongress zum Thema Grundrechte. Man darf auf die Ergebnisse gespannt sein.
Die internationale NGO Ärzte ohne Grenzen nimmt übrigens keine EU-Gelder mehr an – aus Protest gegen die zynische Flüchtlingspolitik des Friedensprojekts Europäische Union. Auch in Wien tanzen die Ärzte nicht mit. Reporter ohne Grenzen übrigens auch nicht.
(Text: Rubina Möhring)