Wie schnell und mit welchen Mitteln jeder in der Türkei zum Terroristen werden kann? Das fragten sich am Dienstagabend Reporter ohne Grenzen Österreich, Amnesty International Österreich und die Plattform Rechtsstaat bei einer gemeinsamen Podiumsdiskussion im Juridicum Wien. Ziemlich schnell, kam Moderatorin und ROG-Präsidentin Rubina Möhring mit ihren Gästen zum Schluss.
„Stellen Sie sich vor, sie bekommen als Anwalt einen Anruf von jemandem, der von der Polizei verhaftet wurde. Mein Rat wäre immer: Sagen Sie nichts! Wenn die Polizei genug Informationen hat, um Sie dazubehalten, behalten sie Sie da, egal was Sie sagen. Wenn sie nicht genug Informationen hat, liefern Sie ihr keine.“, erklärte der Menschenrechtsanwalt Clemens Lahner, der zahlreiche Prozesse in der Türkei beobachtete. In der Türkei wäre dieser Rat für einen Anwalt aber gefährlich, denn: Die türkischen Behörden argumentierten, dass statistisch gesehen etwa die Hälfte aller Angeklagten die Aussage verweigern, diese Zahl sei bei als links angesehenen Gruppen aber höher. Logische Schlussfolgerung: Die Anwälte unterstützen das, was auch immer den Angeklagten vorgeworfen wurde. „Dabei ist das nur Teil unseres Jobs!“
Umso wichtiger sei es, quer durch die Berufssparten zusammenzuhalten. Anwälte brauchen Journalisten, die darüber berichten, wenn sie verhaftet werden und Journalisten brauchen Anwälte, wenn sie verhaftet werden. „Wir sitzen im selben Boot“, appelliert Lahner.
Für etwas, das nur Teil seiner Arbeit ist, muss sich auch Erol Önderoglu vor Gericht verantworten. Önderoglu ist seit weit über 20 Jahren Journalist und Vertreter von Reporter ohne Grenzen Türkei. Weil er an einer Solidaritätsaktion für die türkisch-kurdische Tageszeitung Özgür Gündem teilgenommen hatte, wurde er im Juni 2016 wegen „terroristischer Propaganda“ für die PKK verhaftet. Sein Prozess ist noch immer in der Schwebe, ihm drohen 14 Jahre Gefängnis. Das Signal ist klar: Wenn selbst renommierte Journalisten und Vertreter der Zivilgesellschaft wie er verhaftet werden können, kann es jeden treffen. Viele unabhängige Journalisten gibt es in der Türkei deshalb nicht mehr. „Die Situation ist alarmierend“, sagt Önderoglu. Über 90 Prozent der Mainstream-Medien sind heute unter der Kontrolle der Regierung. Unzählige Reporter wurden gefeuert, zur Kündigung gedrängt oder angeklagt. Viele arbeiten heute in anderen Bereichen, um ihre Familie nicht zu gefährden, über 100 sitzen in Haft. Die restlichen 10 Prozent unabhängiger Medien haben wenig Einfluss und stehen unter ständiger Bedrohung.
Das Ausmaß der Eingriffe in Bürokratie, Zivilgesellschaft und freie Meinungsäußerung macht Bernhard Csengel, Campaigner bei Amnesty International Österreich, klar: 130.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, unter ihnen teils hohe Staatsvertreter, Polizisten, Lehrer, Staatsanwälte, Richter und Journalisten von staatlichen Medien, haben nach dem Putschversuch 2016 willkürlich ihren Job verloren. Mit Stand April 2018 sind 78.000 Menschen in Haft wegen absurden Terrorvorwürfen. Sie alle warten auf ihr Urteil, das kann aber dauern, denn die Justiz wurde dramatisch gesäubert und geschrumpft. Möglich war das unter anderem auch durch zahlreiche Gesetzesänderungen. „Dadurch dauert der Ausnahmezustand eigentlich noch weiter an, auch wenn er seit Juli offiziell beendet ist“, meint Csengel. Während des zweijährigen Ausnahmezustandes gab es 32 Notfalldekrete, 300 Gesetzesänderungen und 150 neue Gesetze. „Wenn in einer Gesellschaft niemand mehr weiß, was noch legal ist, erzeugt das ein Klima der Angst“, warnt Csengel.
Von dieser Angst weiß Ceren Uysal nur zu gut. „Was mir passiert ist, ist nicht anders als das, was vielen anderen passiert ist.“ Die Menschenrechtsanwältin und Vorstandsmitglied der Progressiven Anwaltsvereinigung ÇHD verließ die Türkei, zu groß war die Furcht, auch festgenommen zu werden. Heute studiert sie Gender Studies in Wien. Die Anwaltsvereinigung war schon lange ein Ziel der Regierung, nach dem Putsch, der die Atmosphäre in der Türkei völlig veränderte, spitze sich die ohnehin schon schwierige Situation zu. Um als Terrorist gesehen zu werden, müsse man weder Gewalt anwenden, noch Mitglied einer Terrorgruppe sein. Es reicht, Menschenrechte einzufordern, erzählt Uysal. „Wir werden nicht nur angeklagt, Terroristen zu sein, es wird allgemein akzeptiert, dass wir Terroristen sind“, sagt sie.
Dass diese Entwicklung kein Sonderfall der Türkei ist, warnt Rubina Möhring. Erste Schritte in diese Richtung gibt es auch in EU-Ländern, etwa in Polen oder Ungarn. „Bleiben Sie wachsam, auch in Österreich!“, warnt die Moderatorin und Präsidentin von Reporter ohne Grenzen Österreich deshalb zum Abschluss.
Die Diskussion wurde von Radio Orange aufgezeichnet und kann hier nachgehört werden:
Fotos (c) Christoph Liebentritt