Totgeschwiegen im Heimatland

Totgeschwiegen im Heimatland

Ein kleiner Sender in Paris informiert Eritrea über das Drama von Lampedusa – keine EU-Lösung für das Flüchtlingsproblem

Blog von Rubina Möhring

Im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen wurde bisher die Herkunft der bei den jüngsten Flüchtlingsdramen vor der italienischen Insel Lampedusa jämmerlich ums Leben Gekommenen. Mehr als 300 dieser Opfer stammten aus Eritrea, doch darüber berichteten auch die heimischen Medien nicht. Aufgeklärt wurde die Öffentlichkeit in deren Heimatland erst durch den in Paris ansässigen unabhängigen Sender Radio Erena. In Eritrea gelten Flüchtlinge als Landesverräter.

Erena ist ein kleiner Sender, unterstützt von “Reporter ohne Grenzen”. Das Büro ist winzig, die Ausstattung aus Kostengründen auf das Notwenigste beschränkt. Die Dienste, die Erena im Sinne der Informationsfreiheit leistet, entsprechen durchaus dem einstigen deutschen BBC-Sender während der Hitler-Diktatur, im damaligen deutschen Amtsjargon “Feindsender” genannt. Erena informiert die eritreische Öffentlichkeit in der amtlichen Landessprache Tigrinya – nun wissen wenigstens auch die Familien über das Schicksal ihrer Angehörigen Bescheid.
Abgeschotteter Staat


Durchbrochen wird Erena zugleich die Informationsbarriere, die die eritreische Regierung seit 20 Jahren konsequent betreibt. Eritrea ist ein von jeglicher Öffentlichkeit abgeschotteter Staat. Manche nennen das Land ein einziges, großes Gefängnis. Im Press Freedom Ranking von “Reporter ohne Grenzen” nimmt der Staat seit je Rang 179 und damit die letzte Position ein.

Ob EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso bei seinem Besuch in Lampedusa bereits bewusst war, dass die Mehrzahl der Opfer aus Eritreer waren, ist nicht bekannt. Unabhängig davon ist es kein Wunder, dass er bei seinem “Lokalaugenschein” trotz Unterstützungszusagen in Millionenhöhen von der italienischen Bevölkerung ausgepfiffen wurde. Diese fühlt sich mit dem Flüchtlingsproblem allein gelassen.

Die tatsächlichen Wurzeln des Übels europäischer Flüchtlingspolitik liegen jedoch weniger bei der EU-Kommission als bei den EU-Mitgliedsstaaten selbst. Die fragwürdige Dublin 2-Regelung, der zufolge Flüchtlinge nur in jenen Ländern um Asyl ansuchen dürfen und auch nur dort auf ihr Genehmigungsverfahren warten müssen, wo sie EU-Boden betreten haben, ist nicht zu kippen. Lampedusa bleibt also weiter Zielort von Flüchtlingsschiffen aus Afrika.
Selbstschutz-Floskeln

Erschütternd ist die Reaktion der Innenminister der Europäischen Union, allen voran die der Mitgliedsstaaten Deutschland und Österreich. Nein, wir wollen bei der Aufnahme von Asylwerbern keine neue gemeinsame Lösung. Die zunehmenden Flüchtlingsströme bleiben das Problem der EU-Außenstaaten. Ja wir sind für verschärfte Sicherheitsmaßnahmen, um illegales Schleppertum zu unterbinden. Bleiben wir die “Festung Europa”. Hierbei soll nun auch die nicht gerade zimperliche EU-Grenzsicherungseinheit Frontex strandenden Flüchtlingen helfen.

All dies sind Selbstschutz-Floskeln ohne tatsächlich humanitären Inhalt. Unberücksichtigt bleiben die die Menschenrechte ignorierende Lebensbedingungen in den Heimatländern der Flüchtlinge. Der logische “Umkehrschluss”, dass Not und Verfolgung Anlass zur Flucht sind, ist in den entsprechenden Innenministerien offenbar kein Thema. Auch nicht, dass das Schleppertum gerade dadurch gefördert wird, dass nicht in den Botschaften der EU-Staaten sondern nur auf EU-Boden um Asyl angesucht werden kann. Wie anders als durch Schlepper sollen die Flüchtlinge diesen erreichen?

Innerhalb knapp einer Woche sind zwei Schiffe mit Flüchtlingen an Bord vor der kleinen italienischen Insel Lampedusa gekentert. Das zweite Schiff geriet erst am Freitag in Seenot. Tags zuvor hatte das Europäische Parlament eine verschärfte Überwachung der südlichen Außengrenze der EU beschlossen.

Grenzkontrollen statt Erkennen der Not? Schwadronieren über eine mögliche Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse – damit die Menschen zuhause bleiben – bei schrumpfenden Entwicklungshilfebudgets?
Bürgerkriege und Repressalien

Hunderte Menschen konnten bei diesen jüngsten Flüchtlingsdramen nur noch tot geborgen werden, hunderte werden noch vermisst. Sie flohen vor Bürgerkriegen in ihren Ländern, sie flüchteten vor Repressalien – sie sind primär Opfer politischer Situationen.

Warum mauern gerade Österreich und Deutschland in Sachen einer EU-weiten Reform der Asyl- und Flüchtlingspolitik? Mag sein, weil man in diesen Ländern inzwischen zu satt geworden ist und die selbst gemachten Flüchtlingsdramen längst, beziehungsweise endlich Vergangenheit sind. Oder doch nicht?

Dieser Tage feiert Österreich wieder einmal einen Nobelpreisträger mit österreichischen Wurzeln. Martin Karplus musste als Kind aus Österreich fliehen. Seine Familie hatte damals das Glück, in den USA aufgenommen zu werden – als Flüchtlinge aus einem damaligen europäischen menschenverachtenden System. (Rubina Möhring, derStandard.at, 12.10.2013)