Selenskyj muss Pressefreiheit schützen

Selenskyj muss Pressefreiheit schützen

Selenskyj muss Pressefreiheit schützen

Reporter ohne Grenzen (RSF) ruft den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf, Presse- und Meinungsfreiheit zu schützen und unabhängige Berichterstattung auch in der derzeit angespannten politischen Situation nicht einzuschränken. Unter Umgehung des Parlaments und der Gerichte hatte Selenskyj in der Vergangenheit mehrfach Medien verboten, deren Berichterstattung als prorussisch galt, die in Russland produziert wurden oder die der Kreml für Desinformationskampagnen einsetzte. Medienschaffende, die über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine berichten, arbeiten oft unter großen Gefahren. Von der annektierten Halbinsel Krim und aus den besetzten Gebieten im Osten des Landes ist seit Jahren kaum noch unabhängige Berichterstattung möglich.

„Natürlich versteht man die Ukraine, dass sie gegen die massive Desinformationskampagnen aus Russland, in denen tendenziöse Berichte, ja sogar offene Falschmeldungen eingesetzt werden, vorgeht“, sagte Reporter ohne Grenzen (RSF) Österreich-Präsidentin Rubina Möhring. „Man muss aufpassen, dass die Ukraine nicht unter dem Vorwand, sich gegen Desinformation von Russland zur Wehr zu setzen, gleichzeitig unabhängige Berichterstattung und somit die Meinungsvielfalt unterdrückt. Auch die Ukraine muss sich an demokratische bzw. rechtsstaatliche Maßnahmen halten.

Verbot prorussischer Medien ohne Zustimmung des Parlaments

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war 2021 wiederholt in die Kritik geraten, als er oppositionelle und prorussische Medien verbieten ließ und sich dabei ausschließlich auf eigene Dekrete und Empfehlungen des von ihm eingesetzten Nationalen Sicherheitsrats stützte.

Im August 2021 ließ Selenskyj mit Verweis auf „prorussische Propaganda“ unter anderem die russischen Zeitungen Wedomosti und Moskowski Komsomolez sowie die oppositionelle ukrainische Nachrichtenseite strana.ua sperren. Gegen den Chefredakteur von strana.ua, Ihor Huschwa, der in Österreich politisches Asyl erhalten hat, wurden Sanktionen verhängt.

Für Aufsehen hatte der Präsident bereits im Februar 2021 gesorgt, als er drei ukrainischen TV-Sendern (Kanal 112, NewsOne und ZIK) für fünf Jahre die Sendelizenzen entzog. Innerhalb weniger Stunden wurden die Programme abgeschaltet. Auch diese Entscheidung traf der Präsident per Dekret auf Empfehlung des Sicherheitsrats und ohne stichhaltige Belege für den Vorwurf vorzulegen, die Sender würden „Propaganda“ im Sinne Moskaus verbreiten. Die drei Sender werden dem Politiker und Putin-Vertrauten Wiktor Medwedtschuk zugerechnet und sind Sprachrohr der prorussischen Partei „Oppositionsplattform“, die der Regierungspartei vor allem im Osten der Ukraine Konkurrenz macht. Die Entscheidung Selenskyjs wurde nicht nur international kritisiert, sondern auch innerhalb der Ukraine. Medien dürften nicht ohne Gerichtsentscheidung gesperrt werden, erklärte etwa der Chef des ukrainischen Journalistenverbandes, Serhij Tomilenko.

Nach dem Verbot der drei Fernsehsender im Februar 2021 rief die rechtsextreme Organisation „Prawyj Sektor“ zum Protest vor der Redaktion von Nasch TV in Kiew auf, einem weiteren als prorussisch geltenden Sender. Dabei griffen Demonstrierende den Reporter Oleh Netschaj an und entrissen ihm während einer Live-Schaltung das Mikrofon. Der Journalist Oleksij Paltschunow wurde zusammengeschlagen. Im August 2021 beantragte der Nationale Rundfunkrat, Nasch TV die Lizenz zu entziehen.


Kaum unabhängige Nachrichten aus dem besetzten Osten und von der Krim

Aus den von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine und der von Russland annektierten Halbinsel Krim können Medienschaffende nur unter größten Gefahren berichten, von dort dringen kaum unabhängige Nachrichten nach außen. Der Journalist Stanislaw Asejew beschrieb RSF im Dezember 2021 in einem Video eindrücklich seine Erfahrungen. Asejew, einer der letzten unabhängigen Reporter, die nach dem Krieg 2014 noch aus dem Osten der Ukraine berichteten, war im Juni 2017 entführt worden. Die zweieinhalb Jahre seiner Gefangenschaft verbrachte er zu einem großen Teil in Isolation. Er wurde unter Folter gezwungen, falsche Geständnisse zu unterschreiben und sich im Fernsehen als ukrainischer Spion schuldig zu bekennen.

Auf der Krim nahm der russische Inlandsgeheimdienst FSB am 10. März 2021 Wladislaw Jessipenko fest, einen freien Korrespondenten des Regionalprogramms von Radio Free Europe/Radio Libertykrym.realii. Jessipenko wurde nach eigenen Angaben gefoltert und gezwungen, im staatlichen russischen TV-Kanal Krim24 ein Geständnis abzugeben. Auch ihm wird vorgeworfen, für die Ukraine spioniert zu haben. Seit dem 28. März 2019 sitzt zudem der krimtatarische Journalist Remsi Bekirow im Gefängnis, der für die in Russland verbotene oppositionelle Nachrichtenseite graniru.org über die Verfolgung der Tataren auf der Krim berichtet hatte. Ihm droht lebenslange Haft wegen der angeblichen „Organisation einer terroristischen Vereinigung“.

Brandanschläge, Überwachung, gewalttätige Übergriffe

Immer wieder wird Gewalt gegen missliebige Medienschaffende ausgeübt, in den seltensten Fällen wird dies aufgeklärt und bestraft. Anfang Dezember 2021 steckten Unbekannte in der westukrainischen Stadt Uschgorod zwei Autos von Pawlo Biletskyj in Brand. Der Chefredakteur der Nachrichtenagentur Zido hatte über illegale Bereicherung in der lokalen Verwaltung berichtet. Weitere Brandanschläge trafen Ende Januar 2020 im westukrainischen Lwiw das Auto der RFE/RL– Reporterin Halyna Tereschtschuk und im August 2020 nahe Kiew einen Wagen des Investigativ-Programms Schemy.

Schemy ist ein gemeinsames Projekt des öffentlich-rechtlichen Senders UA Perschyj und Radio Free Europe/Radio Liberty, das wöchentlich über Korruption berichtet. Das machte die Redaktion in der Vergangenheit häufig zum Ziel von Angriffen. So entrissen im Oktober 2021 Sicherheitsleute der staatlichen Ukreksim-Bank einem Schemy-Team während eines Interviews mit dem Direktor der Bank die Kamera und zwangen sie nach einer kritischen Frage, Aufnahmen zu löschen. Schemy-Reporter Mychajlo Tkatsch beklagte mehrfach, er werde systematisch überwacht, die Polizei gehe dem jedoch nicht nach.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Ukraine derzeit auf Rang 97 von 180 Staaten.