Politische Zeitbombe: ROG fordert neues Verfahren im Hrant-Dink-Prozess

Politische Zeitbombe: ROG fordert neues Verfahren im Hrant-Dink-Prozess

Reporter ohne Grenzen (ROG) ist empört über das jüngste Urteil im Mordfall Hrant Dink. Ein Istanbuler Gericht hatte am Mittwoch (18.01.12) einen weiteren Rechtsnationalisten als Anstifter zu lebenslanger Haft verurteilt. „Mit diesem Urteil ist die politische Zeitbombe, die in dem Fall steckt, keineswegs entschärft”, so die Organisation. Die Verantwortlichen im türkischen Staatsapparat seien nach wie vor nicht zur Rechenschaft gezogen worden.

Von 18 Angeklagten wurde nur der Rechtsnationalist Yasin Hayal wegen Beteiligung an dem Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Erhan Tuncel, den zweiten Hauptbeschuldigten, sprach das Gericht hingegen vom Vorwurf der Beihilfe frei. Auch Hayal ist indes vorübergehend wieder auf freiem Fuß, weil die Richter seine lange Untersuchungshaft von fast fünf Jahren auf die Strafe anrechneten.


„Indem die türkische Justiz den Mord als Tat einer kleinen Gruppe von Fanatikern abtut, stellt sie sich reflexhaft vor den Staat, obwohl eine Reihe unabhängiger Untersuchungen dessen Verwicklung in diesen Fall bestätigt hat”, kritisiert ROG. Türkische Sicherheitskräfte hätten die Ermittlungen immer wieder behindert, so die Organisation. Doch trotz vieler Hinweise darauf, sie könnten an der Tat beteiligt gewesen sein, erklärte das Gericht nun, es gebe keine ausreichenden Beweise für ein groß angelegtes Mordkomplott.

Nach dem Urteilsspruch zogen hunderte Menschen vom Gericht zur Redaktion der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos, die Dink gegründet hatte. In seinen Texten hatte der Journalist die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als “Völkermord” bezeichnet und war dadurch ins Visier türkischer Ultranationalisten geraten. Dinks Ermordung am 19. Januar 2007 löste nicht nur in der Türkei Bestürzung aus. Der zur Tatzeit noch minderjährige Todesschütze Ogün Samast wurde vor einem halben Jahr von einem Jugendgericht zu einer Haftstrafe von fast 23 Jahren verurteilt.

Die Anwälte der Familie Hrant Dinks kündigten nach dem gestrigen Urteil an, in Berufung zu gehen. ROG unterstützt dies und fordert die Wiederaufnahme des Prozesses. „Die Staatsanwaltschaft trägt jetzt eine noch größere Verantwortung als zuvor. Sie muss sicherstellen, dass auch jene Beweise berücksichtigt werden, die auf eine Verwicklung der Staatsorgane hindeuten. Nur so wird die Bevölkerung die Farce dieses ersten Prozesses vergessen.”