“Hände weg vom Internet”: Webzensur durch neues Mediengesetz in der Türkei

“Hände weg vom Internet”: Webzensur durch neues Mediengesetz in der Türkei

Blog von Rubina Möhring

Mit solchen Gesetzen wird Erdogans “moderne” Türkei den Ruf manifester Demokratie- und Medienfeindlichkeit nicht los

“Hände weg von meinem Internet” skandierten am Samstag bis tief in die Nacht hinein Demonstranten in Istanbul. Reaktion der Polizei: Wasserwerfer, Tränengas, Gummigeschosse, Dutzende Festnahmen. Das kennen wir doch aus den Sommermonaten vergangenen Jahres. Damals ging es um den Erhalt des Gezi-Parks mitten im Stadtzentrum.

Diesmal dient die überzogene Reaktion der Sicherheitskräfte der Verteidigung des neuen Internet-Gesetzes, demzufolge Websites auch ohne richterlichen Beschluss gesperrt werden können. “Stoppt die Zensur” rufen die Demonstranten. Mit “Unsinn” reagiert die Regierung auf jedwede Kritik. Durch das neue Gesetz werde das Netz vielmehr freier und sicherer, flötet Ministerpräsident Erdogan.

Wer wann wo surft


Fragt sich nur für wen? Bestimmt für die Sicherheitsbehörde, die Aufsichtsbehörde für Telekommunikation, TIB, die nun auch noch ein Zugriffsrecht auf die neu einzuführende zweijährige Datenvorratsspeicherung erhalten sollen. So lässt sich locker feststellen, wer wann und wo im Internet herumsurft. Um “Verirrungen” zu vermeiden, könnten nun ebenso locker Websites einfach blockiert werden. Manche meinen, die Regierung Erdogan versuche durch diese legistische Hintertür, die Diskussion über den seine Partei belastenden landesweiten Korruptionsskandal zu ersticken.

Webzensur und Überwachung

Aber nein, meint der gerade aus Deutschland zurückgekehrte Ministerpräsident. Das Internet werde auf keinen Fall zensuriert, die Regierung wolle nur die Privatsphäre von Menschen schützen. “Reporter ohne Grenzen” hingegen nennt das neue Gesetz Webzensur sowie Überwachung und Regierungskontrolle des Internets. Die amerikanische Organisation “Committee to Protect Journalists” (CPJ) spricht von Internet-Autoritarismus. Selbst der türkische Unternehmerverband kritisiert, dass das Gesetz mit der Gewaltenteilung in Konflikt stehe und der Zensur Vorschub leiste.

Werben um die Gunst der in Deutschland lebenden Auslandstürken

Am Mittwoch vergangener Woche hatte das Gesetz das Parlament passiert.  Recep Tayyip Erdogan weilte in Deutschland, um dort bei Kollegin Angela Merkel auf Brautschau für einen künftigen EU-Beitritt zu gehen. Programmpunkt Numero zwei  dieses Staatsbesuches war das Werben um die Gunst der in Deutschland lebenden Auslandstürken. Immerhin 1,3 Millionen Wahlberechtigte an der Zahl. Im Sommer dieses Jahres sollen diese erstmals auch in Deutschland ihre Stimme für Wahlen im Heimatland abgeben dürfen. Bisher mussten sie dafür in die Türkei reisen, nur noch fünf Prozent aller waren dazu bereit. Im August 2014 stehen jedoch für Recep Erdogan wichtige Wahlen an: Die Präsidentschaftswahlen, bei denen, so heißt es, Erdogan den jetzigen Präsidenten Abdullah Gül in seinem Amt beerben möchten.

Gül in der Klemme

Abdullah Gül ist es derzeit auch, der als einziger das neue Gesetz noch kippen könnte. Solange er nicht unterschreibt, kann das Gesetz nicht in Kraft treten. Zwei Wochen hat er Zeit, um das Gesetz an das Parlament zurückzuverweisen. Oppositionelle appellieren deshalb an das Staatsoberhaupt, “eine Position im Namen der Demokratie und Freiheit einzunehmen.” Gül sitzt jetzt ganz schön in der Klemme. 40.000 Websites sind bereits laut dem IT-Sicherheits-Experten Eyüp Celik blockiert. Orwell’sche Befugnisse wurden der Telekommunikationsbehörde TIB eingeräumt, analysiert der auf  Medien und Internet spezialisierte Rechtswissenschafter Yaman Akdeniz von der Bilgi -Universität in Istanbul.

“Schritt zurück” für Freiheit der Medien

Eines steht jedenfalls fest: Mit solchen Gesetzen wird Erdogans “moderne” Türkei nicht den Ruf manifester Demokratie- und Medienfeindlichkeit los. Nach wie vor gilt das Land als Prototyp eines einzigen, großen Journalistengefängnisses, nach wie vor sind Willkür bei Verhaftungen, Anklagen und Urteilen angesagt. Die OSZE-Medienbeauftragte Dunja Mijatovic ortet, die neuen Maßnahmen seien nicht mit internationalen Standards vereinbar, die EU fordert eine Anpassung an EU-Rechtsstandards.

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlamentes, spricht gar von “einem Schritt zurück” für die Freiheit der Medien. Replik des Erdogan-Vize Bülent Arinc: Von Internetzensur sei keine Rede, “wir sind freier als viele andere Länder und haben Pressefreiheit”. Na dann. (Rubina Möhring, derStandard.at, 9.2.2014)

Link zum Artikel von Reporter ohne Grenzen International