Ergenekon-Prozess in der Türkei offenbart Mängel bei Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit

Ergenekon-Prozess in der Türkei offenbart Mängel bei Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit

Die langjährigen Haftstrafen
gegen mindestens zwölf Journalisten im Rahmen des
Ergenekon-Prozesses werfen ein Schlaglicht auf die ungelösten
Probleme der Türkei mit Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. „Der
Prozess hat einmal mehr gezeigt, wie nötig grundlegende
Justizreformen in der Türkei sind”, so Rubina Möhring,
Präsidentin von Reporter ohne Grenzen. „Überlange
Untersuchungshaft, unklare Anschuldigungen und fragwürdige Beweise
kennzeichnen auch viele andere Verfahren gegen Journalisten, die etwa
wegen ihrer Arbeit für pro-kurdische Medien verfolgt werden.”

Als
Beweismaterial in dem am Montag zu Ende gegangenen Prozess dienten
unter anderem illegal abgehörte Telefonate sowie Aussagen anonymer
Zeugen. Zwei der nun verurteilten Journalisten, Mustafa Balbay und
Tuncay Özkan, verbrachten während des Prozesses vier bzw. fünf
Jahre in Untersuchungshaft.
Zwei Tage vor der Urteilsverkündung wurden in Istanbul die Wohnungen
mehrerer Journalisten durchsucht, darunter Ilker Yücel und Osman
Erbil von der Zeitung Aydinlik sowie Mustafa Kaya und Mehmet Kivanc
vom nationalistischen Sender Ulusal Kanal. Die Staatsanwaltschaft
verdächtigte sie, zu Demonstrationen gegen den Ergenekon-Prozess
aufgerufen zu haben, die „die Verfassungsordnung gefährden” und
die Geschworenen bei der Urteilsfindung unter Druck setzen
könnten.



Die juristische Aufarbeitung der Vorwürfe um den
nationalistischen Ergenekon-Geheimbund seit 2007 hat die türkische
Öffentlichkeit gespalten. Die Verfolgung hochrangiger Militärs und
Beamter wurde zunächst als Sieg als Sieg von Demokratie und Justiz
über die Vormachstellung der Armee gefeiert: Unter den nun
Verurteilten sind etwa der Anwalt Kemal Kerincsiz und der Nationalist
Levent Temiz, die den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink
vor seiner Ermordung 2007 bedroht hatten. Im Laufe der Zeit
entwickelten sich die Ergenekon-Ermittlungen aber mit immer neuen
Verhaftungswellen zu einer Generalabrechnung mit Oppositionellen und
Regierungskritikern.

Verurteilt wurde nun unter anderem
Mustafa Balbay, früherer Kolumnist der Zeitung Cumhuriyet und
Parlamentsabgeordneter der Republikanischen
Volkspartei CHP
. Er erhielt 34 Jahre und acht Monate Haft. Der
ebenfalls politisch aktive frühere Besitzer des Fernsehsenders Biz
TV, Tuncay Özkan, wurde zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit
einer vorzeitigen Freilassung verurteilt. Mehmet Haberal, Eigentümer
des Senders Baskent TV, erhielt eine Haftstrafe von zwölfeinhalb
Jahren, die wegen der langen Untersuchungshaft zur Bewährung
ausgesetzt wird. Deniz Yildirim, ehemals leitender
Aydinlik-Redakteur, erhielt 16 Jahre und zehn Monate Haft.

Der
Aydinlik-Journalist Hikmet Cicek, der zugleich eine führende Figur
der Arbeiterpartei ist, wurde zu 21 Jahren und neun Monaten Haft
verurteilt. Der Journalist Vedat Yenener erhielt siebeneinhalb Jahre
Haft, ebenso der frühere Chef von Ulusal Kanal, Serhan Bolluk.
Dessen Nachfolger Adnan Türkkan bekam eine zehneinhalbjährige
Haftstrafe. Der Fernsehjournalist Turan Özlü erhielt neun Jahre
Haft, der frühere Kolumnist Güler Kömürcü Öztürk sieben Jahre
und Ünal Inanc vom Nachrichtenportal Aykiri Haber 19 Jahre und einen
Monat. Der Journalist Caner Taspinar ist einer der 21
Freigesprochenen in dem Mammut-Prozess mit insgesamt 275
Angeklagten.

Unabhängig von den nun verhängten Urteilen geht
der Prozess gegen 13 Angeklagte weiter, denen vorgeworfen wird, sie
hätten durch Bücher und Veröffentlichungen auf der Webseite des
oppositionellen Online-Fernsehens Oda TV das Ergenekon-Netzwerk
unterstützt und dessen juristische Verfolgung diskreditiert. Unter
ihnen sind die bekannten Investigativjournalisten Ahmet Sik und Nedim
Sener. Sik gehörte zu den Reportern des Magazins Nokta, die den
Ergenekon-Geheimbund aufdeckten und damit ihre strafrechtliche
Aufarbeitung erst ermöglichten. Sener machte sich einen Namen als
Enthüller von Korruptionsfällen, bevor er intensiv zum Mord an
Hrant Dink recherchierte. Die Vorwürfe gegen beide sind äußerst
vage. In ihren Verhören wurde deutlich, dass sich die
Anschuldigungen der Strafverfolger vor allem auf ihre
journalistischen Recherchen zum Ergenekon-Komplex stützen.

Einen
ausführlichen Bericht zum Verfahren gegen Ahmet Sik und Nedim Sener
finden Sie unter http://bit.ly/U6RPSW,
allgemeine Informationen zur Lage der Pressefreiheit in der Türkei
unter http://en.rsf.org/turkey.html.