Böse Überraschung zum neuen Jahr: Statt des gewohnt bissigen Neujahrsgrußes fanden chinesische Leser Anfang Januar ein zahmes Propagandastück in der für ihre kritischen Reportagen bekannten Wochenzeitung Nanfang Zhoumo. Die Behörden hatten den Artikel ohne Wissen der Redaktion ausgetauscht und damit eine Protestwelle ausgelöst. Reporter ohne Grenzen hat den zensierten Text jetzt auf www.wefightcensorship.org veröffentlicht.
Nanfang Zhoumo gilt als eine der mutigsten und einflussreichsten Zeitungen in China. In seinem für den 3. Januar geplanten Neujahrsartikel hatte Herausgeber Dai Zhiyong zur Kontrolle der Staatsmacht und zum Schutz von Bürgerrechten aufgerufen. Stattdessen fand die überraschte Redaktion am Tag der Veröffentlichung eine Lobrede auf die Kommunistische Partei im Blatt. Der Propagandachef der südchinesischen Provinz Guangdong, in der Nanfang Zhoumo erscheint, hatte den Text ausgetauscht, ohne die Mitarbeiter der Zeitung zuvor darüber zu informieren. „So etwas ist bisher selbst in China noch nicht vorgekommen”, so Reporter ohne Grenzen.
Der Vorfall löste landesweit heftige Proteste aus. Die Redaktion von Nanfang Zhoumo streikte und drohte damit, die Öffentlichkeit im Detail über mehr als 1000 Artikel zu informieren, die im vergangenen Jahr der Zensur zum Opfer gefallen seien. Ehemalige Redakteure forderten den Propagandachef der Region, Tuo Zhen, schriftlich zum Rücktritt auf. Studenten und Intellektuelle aus anderen Städten brachten in offenen Briefen ihre Solidarität mit der Zeitung zum Ausdruck. Auf Weibo-Diensten, den chinesischen Twitter-Pendants, bekundeten Zehntausende Nutzer ihre Solidarität mit Nanfang Zhoumo, darunter bekannte Blogger wie Han Han und Li Chengpeng.
Vor dem Gebäude der Redaktion in Guangzhou versammelten sich mehrere Tage lang Unterstützer und demonstrierten für mehr Pressefreiheit. Die Polizei nahm bei den Protesten Schätzungen von ROG zufolge rund 30 Menschen fest und verschleppte Demonstranten zum Teil mit Gewalt.
Reporter ohne Grenzen hat den zensierten Artikel von Dai Zhiyong jetzt auf www.wefightcensorship.org veröffentlicht und den Fall detailliert dokumentiert. In einem Online-Dossier informiert ROG zudem über Zensur und Unterdrückung von Journalisten in China, wo derzeit fast 100 Journalisten und Blogger im Gefängnis sitzen.