Kaum von der Terrorismus-Anklage freigesprochen, steht Erol Önderoğlu im November erneut wegen angeblichem Terrorismus vor Gericht. Absurd.
Von Rubina Möhring
Der Willkür in der türkischen Rechtsprechung sind Tür und Tor geöffnet. Nach einem dreijährigen Nervenkrieg wurde nun Erol Önderoğlu, der türkische Repräsentant und Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, freigesprochen. Die Anklage lautete auf Terrorismus. Im November wird er erneut vor Gericht stehen – nochmal angeklagt wegen Terrorismus. Wie passt das zusammen? Weshalb war er überhaupt wegen Terrorismus angeklagt gewesen? Er hatte mit anderen Journalistinnen und Journalisten jeweils für einen Tag die redaktionelle Leitung einer in Istanbul verlegten kurdischen Zeitschrift übernommen. Warum? Die Chefredaktion war aus heiterem Himmel kurz nach dem seltsamen Putsch im Sommer 2016 wegen angeblicher “Beteiligung an Terrorismus” festgenommen worden. Türkische Kolleginnen und Kollegen zeigten sich solidarisch und leiteten in einem täglichen Rotationsprinzip die Redaktion. Bei einem Schuldspruch hätte Önderoğlu mit 14 Jahren Gefängnis rechnen müssen. Unerwartet entschied jedoch das Gericht auf Freispruch.
Pferdefuß und Nervenkrieg
Allerdings hat dieses Urteil auch einen Pferdefuß. Kaum von der Terrorismus-Anklage freigesprochen, steht Önderoğlu im November wieder wegen angeblichem Terrorismus vor Gericht. Absurd. Diesmal wegen der Teilnahme an einer zivilgesellschaftlichen Demonstration. Der Nervenkrieg wird also – dramaturgisch perfekt inszeniert – weitergeführt.
Doch nicht nur dies. Abgelenkt wird zugleich von den fast zeitgleichen Prozessen gegen die Organisatoren der Gezi-Park-Demonstrationen in Istanbul vor immerhin sechs Jahren. Damals hatten tausende Angehörige der Zivilgesellschaft gegen die Umwandung des Gezi-Parks im Istanbuler Stadtteil Taksim in ein Einkaufszentrum tagelang protestiert. Friedlich. Tanzend. Zuversichtlich. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie täglich nach Dienstschluss am späten Nachmittag singend Richtung Gezi-Park marschierten. Die Stimmung glich einem Volksfest. Zufällig war ich damals in Istanbul. Es war zunächst ein Vergnügen. Dann kam sehr bald die Polizei mit Panzern, errichtete Straßensperren und setzte Tränengas ein. Übrigens solches, das in EU-Ländern wie Deutschland längst verboten ist.
Das war der Anfang des Endes einer freien Gesellschaft in der Türkei. Auch der Prozess gegen Erol Önderoğlu brauchte eine starke Unterstützung der internationalen Zivilgesellschaft. Er wurde freigesprochen! Dieser Erfolg macht uns sicher.
Dieser Kommentar erschien am 18.07.2019 in Rubina Möhrings Blog “Pressefreiheits-Watchdog” im Standard.