Auch die Informationsfreiheit am Bosporus ist in Schwebe

Auch die Informationsfreiheit am Bosporus ist in Schwebe

Blog von Rubina Möhring

Seit dem am 17. Dezember aufgeflogenen großen türkischen Korruptionsskandal sitzt Erdogan in der Klemme.

Die Zahl inhaftierter Journalisten wurde im vergangenen Jahr in der Türkei drastisch dezimiert – Im Knast müssen jene bleiben, die keine starke Lobby hinter sich haben

Irritiert sind im Moment alle in der Türkei und niemand wagt Prognosen, wie Premierminister Tayyip Erdogans Rundumschlag gegen politische Gegner enden wird. Hunderte Angehörige der Exekutive wurden entfernt oder “verschoben”, angeblich existiert eine Liste mit den Namen 2.000 sogenannter Regierungsgegner, die ebenso angeblich einen politischen Umsturz planen: Vertreter der Judikative, der Exekutive, Verwaltungsbeamte, Geschäftsleute und, wie könnte es anders sein, Medienmenschen. Auch die Informationsfreiheit ist in Schwebe. Sicher ist nur eines: Für den 30. März sind Kommunalwahlen angesagt.

Insofern ist heute vielleicht verständlicher, warum im vergangenen Halbjahr zunächst überraschend zwei prominente, zu langen Haftstrafen verurteilte Medienvertreter entlassen worden waren. Die Judikative hatte offenbar schon damals begonnen, eigene Wege zu gehen.

Die Fälle Haberal und Balbay

Fall Nummer eins: Mehmet Haberal, Aufsichtsratsvorsitzender des TV-Senders Kanal B und Rektor der Baskent Universität in Ankara. Festgenommen im April 2009, am 5. August 2013 zu zwölfeinhalb Jahren verurteilt, noch am selben Tag aus dem Gefängnis entlassen.

Fall Nummer zwei: Mustafa Balbay, Politik-Chefredakteur in Ankara der in Kemal Atatürks Zeiten gegründeten Traditionszeitung “Cumhurriyet”. Verhaftet am 5. März 2009, am 5. August 2013 zu 34 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, aufgrund eines Entscheides des Verfassungsgerichtshofes am 9. Dezember aus der Haft entlassen. Balbay stand übrigens auch auf der Nominierungsliste des “Press Freedom Award – A Signal for Europe”, der 2013 von Reporter ohne Grenzen Österreich an das türkische Online-Portal Bianet verliehen wurde. Die Verleihung in Wien fand just an diesem  9. Dezember statt. Welch ein Zufall.



Zugehörigkeit zu Ergenekon

Was haben Mehmet Haberal
und Mustafa Balbay gemein? Beiden wurde, basierend auf durch
Ordnungsorgane gefälschten Dokumenten, die Zugehörigkeit zu dem
Geheimbund Ergenekon vorgeworfen. Beide sind Abgeordnete der
kemalistischen Halk-Partei. Kemalisten dürften auch manche jener
hochrangigen Militärs gewesen sein, die von Premierminister Erdogan in
Bausch und Bogen geschasst und in Gefängnisse gesteckt worden waren.
Offizielle Begründung: Zugehörigkeit zu Ergenekon = staatsfeindlich.

Auffallend
ist, dass Erdogan sich nun auch wieder diesen militärischen Kreisen
entgegenkommender zu gerieren scheint: Die Prozesse gegen die Militärs
sollen in aller Fairness neu aufgerollt werden. Kein Wunder angesichts
des Machtkampfs mit dem im US-Exil sitzenden Predigers und heutigen
politischen Gegenspielers Fethullah Gülen.

Erdogan in der Klemme

Seit dem am 17. Dezember aufgeflogenen großen türkischen Korruptionsskandal sitzt Erdogan in der Klemme. Seitdem wird in der Türkei jede Menge politische Schmutzwäsche gewaschen. Wer weiß was von wem, wer ist für oder gegen wen? Wer sagt was und wer sagt nichts? Unangenehm für Erdogan ist, dass sein eigener Sohn Bilal eine Aussage im Zusammenhang mit dem Korruptionsskandal bisher verweigert.

Ungleich verzweifelter ist die Klemme, die vielmehr extreme Notsituation, in der sich Erdogans Namensschwester Füsun befindet. Auch Füsun Erdogan, Gründerin des kritischen Senders “Özgür Radyo”, wurde offenbar aufgrund gefälschter Unterlagen im Namen des Anti-Terrorgesetzes verurteilt. Auch sie erkrankte während der siebenjährigen Untersuchungshaft lebensgefährlich. Damit jedoch enden allfällige Parallelen zu Mehmet Haberal und Mustafa Balbay.

Füsun Erdogan ist kurdischer Abstammung, sie ist nicht Parlamentsabgeordnete einer traditionellen Großpartei, sondern lediglich Sympathisantin einer ideologisch angegrauten marxistisch-leninistischen Splitterpartei. Füsun Erdogan wurde in der Nacht vom 5. zum 6. November 2013 nach einem Marathon-Prozesstag zu lebenslanger Gefängnisstrafe, mehreren hundert Jahren zusätzlicher Haft und rund 500.000 Euro Strafzahlung verurteilt.

Marxens Wuschelbart

Die Zahl inhaftierter Journalisten und Journalistinnen wurde im vergangenen Jahr in der Türkei drastisch dezimiert. Im Knast müssen offenbar vor allem jene bleiben, die eben keine starke Lobby hinter sich haben. Wie im Leben repräsentieren sie nun im Gefängnishof das links-linke Eck und kraulen dort gedanklich Karl Marxens Wuschelbart. Politische Umstürzler agieren anders.

Wozu also diese rational nicht nachvollziehbare Härte? Generell und unabhängig von jeglicher Ideologie sind Menschenleben als Museumsstücke für staatliche Vergehen wider die Menschenrechte zu wertvoll, also inakzeptabel. (Rubina Möhring, derStandard.at, 8.1.2014)