Prozess gegen mehr als 30 Journalisten / ROG kritisiert Antiterrorgesetz

Prozess gegen mehr als 30 Journalisten / ROG kritisiert Antiterrorgesetz

Am Montag (10. September) beginnt in Istanbul ein Großprozess gegen 35 Mitarbeiter überwiegend linker und prokurdischer Medien, denen Propagandatätigkeit für die Union Kurdischer Gemeinschaften (KCK) vorgeworfen wird. Zu den Betroffenen, die seit fast neun Monaten in Untersuchungshaft sitzen, gehört auch der Deutschland-Korrespondent der türkischen Tageszeitung „Evrensel”, Hüseyin Deniz, den Reporter ohne Grenzen (ROG) über das Nothilfereferat in Berlin unterstützt. Er war im Dezember 2011 bei einem Besuch in der Türkei festgenommen worden.

Reporter ohne Grenzen kritisiert diesen Prozess scharf. „Die türkische Regierung missbraucht das umstrittene Antiterrorgesetz, um unliebsame Stimmen in den Medien zum Schweigen zu bringen”, so die Organisation. „Wir fordern ein Ende der Sondergerichtsbarkeit und die Freilassung der zum Teil unter konstruierten Vorwürfen festgenommenen Kollegen.”


Ende Dezember 2011 waren innerhalb weniger Tage rund 40 Journalisten festgenommen worden. Sie arbeiteten vorwiegend für prokurdische Medien wie die Nachrichtenagenturen „DIHA” und „ETHA”, die Tageszeitung „Özgür Gündem”, das „Demokratik Modernite Magazine” und das Verlagshaus „Gün”. Ihnen wird Nähe zur KCK vorgeworfen, die die türkische Justiz als zivilen Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK ansieht.

Viele der Festgenommenen wurden in Untersuchungshaft überführt, ohne dass man ihnen die konkreten Vorwürfe mitteilte. Die Akten wurden als Geheimakten geführt und ihren Anwälten vier Monate lang vorenthalten – ein grober Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

„Es ist absurd, wenn die Berichterstattung über die Kurdenfrage automatisch mit der Mitgliedschaft in staatsfeindlichen Organisationen gleichgesetzt wird”, so Reporter ohne Grenzen. Ähnliche Tabuthemen sind der Konflikt mit Armenien oder die Geheimorganisation Ergenekon. Journalisten, die darüber berichten, werden systematisch verfolgt, wie zuletzt der Fall von Ahmet Şık und Nedim Şener zeigte.

Mehr als 90 Journalisten sitzen derzeit in der Türkei im Gefängnis. Meist werden ihnen Straftaten nach dem umstrittenen Antiterrorgesetz zur Last gelegt. Es erlaubt, Verdächtige vier statt der üblichen zwei Tage in Polizeigewahrsam zu halten und ihnen in den ersten 24 Stunden den Kontakt zu einem Anwalt zu untersagen. Oft erhalten selbst Verwandte erst spät Informationen über den Verbleib der Verhafteten. Weil sie Gefangene übermäßig lange in Untersuchungshaft hält, wird die Türkei immer wieder international kritisiert und wurde mehrmals vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Eine Reform des Antiterrorgesetzes im Juli 2012 brachte nur geringfügige Verbesserungen.

Die verhafteten Journalisten lassen sich das Publizieren dennoch nicht verbieten. Seit Juli 2011 geben sie eine eigene Zeitung heraus, die „Tutuklu Gazete”. Sie erschien im Januar 2012 zum zweiten Mal als Beilage der Blätter, die durch die Verhaftungswellen Kollegen verloren haben. Zu den Autoren gehörten neben prominenten Inhaftierten wie Ahmet Şık, Nedim Şener und Ragıp Zarakolu auch der Berliner Korrespondent Hüseyin Deniz.

Den ROG-Bericht „Ein Buch ist keine Bombe” über Medien und Justiz in der Türkei (Juni 2011, in Englisch) finden Sie hier.