Medienhype Kinderschicksale

Medienhype Kinderschicksale

Malala Yousafzai und der Sacharow-Preis

“Taifun auf den Philippinen: 1,5 Millionen Kinder von Hungersnot bedroht” titelt an diesem Wochenende ein deutsches Politmagazin in seiner Onlineausgabe. Traurige Kinderschicksale rütteln auf. Hilfsbedürftige Kinder “ziehen” noch immer in den satten Gesellschaften heutiger Wohlstandsstaaten. Dem “Kindertrend” entsprechend wurde auch der diesjährige “Sacharow-Preis für geistige Freiheit” des EU-Parlaments an ein noch “Beinahe-Kind” verliehen: an die Pakistanin Malala Yousafzai. Die 16-jährige ist, trotz aller Härte ihres Schicksals, Opfer und Prototyp eines Medienhypes.

Kindliche Bloggerin

Schon im Alter von elf Jahren wurde Malala zur Kürläuferin auf dem glatten Eis der Politik, beraten und begleitet von ihrem Vater. Der ist ein fortschrittlicher Privatschuldirektor im pakistanischen Swat-Tal, der als erster die Zerstörung von Schulen durch die Taliban anprangert hatte und dadurch entsprechend gefährdet war. Damals suchte die BBC eine kindliche Bloggerin, die unter Pseudonym zum Thema “Schulverbot für Mädchen” schreibt. Andere Eltern sagten ab, um ihre Töchter nicht zu gefährden, Malalas Vater sagte zu.
Darling der Medien

Dann ging es Schlag auf Schlag. Masala bloggt, die “New York Times” produziert eine Dokumentation, in der das Mädchen erstmals in Erscheinung tritt, bald weiß jeder, dass sie die BBC-Bloggerin ist. Die kleine Malala wird zum Darling der Medien. Niemand denkt über mögliche Folgen für das Kind nach.
Im Soldatenkrankenhaus


Am 9. Oktober 2012 wird sie im Schulbus von Talibanschützen angeschossen. Die Kugeln treffen Kopf und Hals. Nach einer ersten Notoperation wird sie nach Großbritannien ausgeflogen. Das Queen Elizabeth Hospital in Birmingham, eingerichtet für verwundete britische Soldaten, ist spezialisiert auf Kopfwunden und Schussverletzungen. Im März 2013 kann Malala das Spital verlassenen – im Kopf eine Titanplatte, eine Gesichtshälfte ist gelähmt, mit einem ihrer Ohren hört sie nicht mehr.

Kind-Sein ist verloren

Seit dem Attentat ist auch Malalas Kind-Sein verloren gegangen. Andere Jugendliche ihres Alters hängen irgendwo bei Kaffee, Tee oder Softdrinks ab, chillen in Discos. Malala trifft sich stattdessen mit der Queen, mit US-Präsident Obama, spricht vor der UN-Versammlung, wird für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen und ist nun Trägerin des prestigeträchtigen Sacharow-Preises. Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlamentes, nennt Malala ein Symbol für Widerstand und Überleben, eine Heldin, eine ungewöhnliche jungen Frau”.

Professionelle Rednerin

Nahezu winzig wirkte sie unter all den dunkel gekleideten Erwachsenen. Locker um den Kopf geworfen trug sie einen orangefarbenen Schal. Mit großen freundlichen Augen blickte sie in die Kameras. Professionell auch ihre Dankesrede: Ein Appell an die EU, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Millionen von Kindern darbten nicht nur physisch, ebenso groß seien Hunger und Durst auf Bildung.  Wahre Partner – O-Ton Masala: Supermächte – seien nicht militärisch perfekt aufgerüstete Staaten sondern nur solche mit einem hohen gesellschaftlichen Bildungspotential.

Die Rolle des Vaters

Immer an ihrer Seite, der Vater. Heute ist er Bildungsattaché des pakistanischen Konsulates in Birmingham. In Straßburg untersagt er Interviews mit Malala. Begründung: sie sei ja noch ein Kind. Von ihm angeblich forcierte, zumindest abgesegnete Interviews hatten Malala einst bekannt gemacht, dies zu dem teuren Preis, dass seine Tochter zum Feindbild der pakistanischen Taliban wurde.

Malala ist nun weltberühmt, die Familie ist mit ihr in Sicherheit, auch finanziell läuft alles bestens. Das heuer erschienene Buch “Ich bin Malala” verkauft sich glänzend, die von ihr gegründete Stiftung “Malala Education Foundation” für innovative Bildungsprojekte überall auf der Welt floriert. Der Vater ist zufrieden. Ihr kindliches Berufsziel war, Ärztin zu werden. Der Vater sieht ihre Zukunft in der Politik. Der Sacharow-Preis ist übrigens die zwölfte hohe internationale Auszeichnung, die Malala seit 2011 nun erhielt.

Erstmals Sacharow-Preis an Minderjährige

Es war heuer das 25. Mal, dass das EU-Parlament diesen prestigeträchtigen, mit 50.000 Euro dotierten Preis verlieh. Zum ersten Mal an eine Minderjährige. Auch deshalb das gewählte Datum, der internationale Tag der Kinderrechte. Anlässlich des Festaktes sind Plenum und Besuchergalerie des Parlamentes gesteckt voll. Als Ehrengäste waren 22 frühere Preisträgerinnen und Preisträger gekommen, unter diesen auch die Organisation “Reporter ohne Grenzen”.

Kinder vor der Kamera

Kinderbilder, Kinderschicksale ziehen also. Andere Kinder, die von den Medien vor die Kamera gelockt beziehungsweise im Bild “eingefangen” werden, jedoch keinen “PR-Mastermind” hinter sich haben, werden von der Weltöffentlichkeit schnell wieder vergessen. Jene Kinder zum Beispiel, die während Katastrophen wie gerade auf den Philippinen ihre Familien, ihr Heim verloren haben. Kaum ein Bericht, in dem nicht Kinder mit traurigen, tränennassen Augen gezeigt werden. Kaum ein Spendenaufruf ohne Kindersujets. Kinder haben so etwas Berührendes.

Anonyme Sujets

Es geht zu Herzen, wenn Berichte über ausgebeutete Jugendliche, über Kinderarbeit oder Kindersoldaten um die Welt gehen. Kinder bringen Quote, sie sind so viel leichter zu vermarkten als Erwachsene. Kinder können sich auch weniger wehren, wenn sie als Sujet medial missbraucht werden. Harmlos auf einer Müllhalde mit einer Spielzeugpistole Krieg spielendend können sie dann – ohne Entgelt natürlich – in Großaufnahme sogar auf Titelseiten landen. Allerdings nicht als Opfer, die sie sind, sondern als möglicherweise bedrohliche Einwanderungselemente, die die Sicherheit des Landes, in dem das Blatt erscheint, gefährden könnten. Eine Entschädigung für diese Art des Rufmordes gibt es natürlich nicht. Niemand kennt den Namen des Kindes, noch weiß man, wo es inzwischen lebt. Die Redaktion hatte eine Reise ins Bildarchiv gemacht. Kinder sind nun einmal ein Medienhype – als Opfer ebenso wie als kleine Heldinnen oder Helden.

Kinderarmut in Österreich

Und was ist mit den Kindern hier bei uns? Laut einer UNICEF-Studie über “Kinderarmut in den reichsten Ländern” lag Österreich 2012 dank Kindergeld, Sozialleistungen und Steuerleichterungen mit 7,3 Prozent im so genannten Mittelfeld. Dennoch: die relative Kinderarmut ist auch bei uns höher als die generelle Armut. Armut schließt von Bildung aus. “Bildung ist jedoch”, Zitat aus der  Festrede des EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, “ein fundamentales Grundrecht aller Menschen”. Das Europäische Parlament habe sich deshalb in einem Europäischen Manifest verbindlich dazu verpflichtet, das Recht auf Bildung weltweit zu verteidigen und zu schützen. Glück auf. (Rubina Möhring, derStandard.at, 24.11.2013)